Anfang 2022 gingen im altehrwürdigen Rathaus der Hansestadt Stralsund für drei Wochen die Uhren anders als sonst. Innerhalb dieses engen Zeitfensters bereiteten Oberbürgermeister Alexander Badrow sowie Amtsleiterin Sonja Gelinek (Schule und Sport) und die Amtsleiter Frank-Bertolt Raith (Planung und Bau) und Peter Fürst (Wirtschaft und Tourismus) in einem verwaltungstechnischen Husarenritt einen der größten lokal-politischen Coups in der jüngeren Stadtgeschichte vor.

Die 60.000-Einwohner-Kommune schickte sich an, die Großwerft vor den Toren der Stadt zu erwerben. Kurz zuvor war der Eigner des Unternehmens, die MV-Werften-Gruppe, insolvent geworden.

Das Zeitfenster war sehr klein

„Allen war klar, um die Bedingungen für einen Kauf in der knappen Zeit erfüllen zu können, mussten wir von den üblichen Arbeitspfaden abweichen“, erinnert sich Amtsleiter Raith. Normalerweise würden in größere Projekte der Stadtverwaltung die betroffenen Fachabteilungen nacheinander involviert, doch hier lief es anders – vieles wurde parallel abgearbeitet. Telefonate gab es bis zum späten Abend, Absprachen und Konsultationen auch an den Wochenenden.

„Es blieb uns keine Wahl“, erzählt Oberbürgermeister Badrow. „Die Werfthallen samt 34 Hektar Gelände standen auf dem freien Markt zum Verkauf.“ Geliebäugelt hatte er schon seit Längerem mit dem „besonderen Industriegrundstück“ am Strelasund, nun stieg die Stadt ins Bieterverfahren ein.

Ein einzigartiger kommunaler Coup

Und tatsächlich, mit einem fundierten Strategiepapier gelang es, nicht nur den Insolvenzverwalter, sondern auch die Bürgerschaft zu überzeugen. Diese stimmte zu, die Werft für 16,5 Millionen Euro zu übernehmen.

Zwei Jahre danach ist dem OB und seinen Mitstreitern noch immer eine fast schelmische Genugtuung über den deutschlandweit einzigartigen Coup anzumerken. Neben dem politischen Interesse, das wirtschaftliche Zentrum der Stadt zu erhalten, hätten „die lange Tradition der Werft und die Identifikation der Stralsunder mit ihr enorm motiviert, den Kauf unbedingt zu stemmen“, betont Badrow.

Viele Stolpersteine

Welche bürokratischen und juristischen Stolpersteine die Übernahme eines komplexen Industrieobjekts parat hält, verdeutlicht Amtsleiterin Gelinek: „Auf dem Gelände gibt es zwei Blockheizkraftwerke, schweißtechnische Anlagen, ein eigenes Mittelspannungsnetz und viele weitere genehmigungspflichtige Bereiche. Damit die Betriebserlaubnisse nicht erlöschen, musste die Werft am Laufen gehalten werden.“

Für Amtsleiter Fürst hieß das, bereits während der Kaufverhandlungen die Fühler auszustrecken nach ansiedlungswilligen Unternehmen. Die Runde war sich einig, dass es dabei nicht um „einen einzigen großen Bewerber“ gehen sollte. „Denn Schiffbau in der gekannten Dimension“, so Fürsts Fazit, „hat in Stralsund wie an vielen anderen Werftstandorten in Deutschland und Europa keine Zukunft mehr.“

60 bis 70 Anfragen

Angestrebt wird „eine kleinteilige Produktion mit vielen Firmen und mit dem Fokus auf maritimer Industrie“. Die vorhandene Infrastruktur, darunter große Hallen und ein Schiffslift für bis zu 260 Meter lange Seefahrzeuge, sowie technisches Equipment wie Kräne und Transportgeräte weckten schnell das Interesse zahlreicher Unternehmen.

Fürst spricht von 60 bis 70 Anfragen, doch viele passten nicht zum Konzept. „Wir suchen Betriebe, die sich mit maritimen Anlagen, mit Stahlverarbeitung und werftaffinen Dienstleistungen beschäftigen“, ergänzt Amtsleiter Raith. „Im Idealfall gelingt es uns, einen Systemintegrator zu etablieren, um den sich andere Firmen scharen.“

74 Meter hohe Schiffbauhalle

Rund 20 Ansiedlungen mit über 500 Arbeitsplätzen sind bislang unter Dach und Fach, heißt es aus dem Rathaus. Dort sind im Eingangsbereich drei feine Modellbauten zu sehen. Sie symbolisieren die Hansestadt: ein koffergroßes Modell des 1933 in Dienst gestellten Großseglers „Gorch Fock I“, eine Nachbildung des backsteingotischen Rathauses sowie ein Standortmodell der Werft.

In der Realität dominiert die 74 Meter hohe Schiffbauhalle das Betriebsgelände. Das Haupteingangstor wird von dem riesigen Schriftzug „Volkswerft Stralsund“ an der Hallenwand überspannt. Die dunkelblauen Lettern markieren den vorläufigen Schlussakkord der Übernahme durch die Hansestadt.

Bis zu 8.500 Mitarbeiter in alten Zeiten

Unter dem Namen „Volkswerft“ war 1948, über ein Jahr vor Gründung der DDR, der industrielle Schiffbau unter planwirtschaftlicher Ägide gestartet. Über drei Generationen hinweg bot der Betrieb vielen Menschen der Region eine Existenz und berufliche Perspektiven. In Spitzenzeiten passierten täglich mehr als 8.500 Beschäftigte das Haupttor.

Zu ihnen zählte ab 1975 auch Eckhard Fraede, der hier zum Stahlschiffbauer ausgebildet wurde. „Mein Vater war Schiffbauer und dann Ingenieur auf der Werft und meine Mutter Kranführerin. Beide lernten sich auf der Werft kennen.“

Fischereitrawler für die UdSSR

Sohn Eckhard erging es ähnlich, er verliebte sich ebenfalls im Betrieb in seine spätere Ehefrau Beata. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Elektrikerin mit Abitur und ist seit über 40 Jahren mit dem gebürtigen Stralsunder verheiratet. Ähnliche Familiengeschichten mit dem Vermerk „Volkswerft“ gibt es nach Fraedes Angaben unzählige.

Der heute 65-Jährige begann 1980 ein Schiffbau-Studium und arbeitete danach als Konstrukteur auf der Werft. Diese war zu DDR-Zeiten spezialisiert auf den Bau von Fischereifahrzeugen. Was einst mit Loggern und Kuttern begann, mündete in eine hochfrequente Fertigung von Fischereitrawlern verschiedener Typen, die vor allem in die Sowjetunion geliefert wurden.

Die Wende brachte viele Wechsel mit sich

„Von den 62 Meter langen Fangschiffen des Typs Atlantik 333 verließ in den 80er Jahren alle sieben Tage ein Neubau die Fertigungshalle“, erzählt Fraede stolz. In jenen Jahren wurde die Volkswerft vom Londoner Lloyd als weltweite Nummer eins beim Bau von Fischereischiffen geführt.

Fraede erlebte aber auch die wechselvollen Jahrzehnte nach der Wende – mit verschiedenen Eignern und Firmierungen, mit zwei großen Pleiten, mit zwischenzeitlich „guten Jahren, als vor allem Container- und Spezialschiffe gebaut wurden“, und mit seinem letzten „Baby“, der Expeditionsjacht „Crystal Endeavor“. Das schmucke Passagierschiff verließ 2021 als vorerst letzter Neubau die Werft.

Elektro-Autofähre für Lübeck

Wenn Fraede heute im Gewerbepark unterwegs ist, hat er stets seinen Fotoapparat dabei. Das Hobby verbindet er seit Langem mit der Passion, das Geschehen auf der Volkswerft im Bild festzuhalten und zu dokumentieren. Motive bieten sich wieder reichlich. So hat etwa das benachbarte Unternehmen Osteestaal eine Halle gepachtet und hier eine neue Elektro-Autofähre für die Hansestadt Lübeck gebaut.

Angesiedelt hat sich auch die Reparaturwerft Strela Shiprepair. Sie nutzt die weitflächige Helling und den Schiffslift, um kleinere Frachter sowie Passagier- und Spezialschiffe zu warten und instandzusetzen.

Auch eine Firma aus Bayern ist hier aktiv

Die Assets des maritimen Gewerbeparks haben sich unterdessen bis nach Bayern herumgesprochen. Die Firma Steamergy aus Deggendorf gründete in Stralsund eine Tochter-firma, um dort einen neuartigen Dampf-Schiffsmotor zu entwickeln. „Stralsund ist für uns eine ideale Ergänzung“, sagt Geschäftsführer Robert Duschl. Am Sund gebe es den benötigten Platz sowie viel Know-how und Erfahrungen mit dem Bau und Betrieb von Schiffen.

Die Hoffnung auf den Neubau von zumindest mittelgroßen Spezialschiffen lebt auf der Werft auch in den neuen Strukturen weiter. So verfolgt das Unternehmen Fosen Stralsund nach wie vor derartige Pläne in der eigens gepachteten großen Schiffbauhalle.

Umzug der Seehafen-Verwaltung

Nebenan im Verwaltungstrakt der Werft weht auf der Etage der früheren Geschäftsführung im vierten Stock ein Hauch von Historie. Wo einst in guten und in schlechten Zeiten hektische Betriebsamkeit herrschte, ist es nun still.

Nicht so hinter den Bürotüren der Seehafen-Verwaltung. Sie hat unlängst ihren Sitz vom stadtnahen Nordhafen in den Gewerbepark verlegt, der an den Süd- und Frankenhafen grenzt. Geschäftsführer Sören Jurrat sieht in dem Ortswechsel unter anderem die Chance, das „spezielle Know-how des Hafens in die interne Logistik des Gewerbeparks einzubringen“. Zum Beispiel bei Schwergut- und Projektverladungen. Gesellschafter des Seehafens ist die Hansestadt Stralsund.